Nachbarschaft

Al-jar qabla’l-dar – Der Nachbar ist wichtiger als das Haus.

Dieses bekannte syrische Sprichwort drückt aus, wie wichtig nachbarschaftliche Beziehungen sind. In Syrien bedeutete Nachbarschaft häufig enge soziale Kontakte. In den Dörfern waren Nachbarn oft auch Verwandte. Dies war in der Stadt nicht unbedingt so; in den syrischen Metropolen Aleppo, Damaskus, Homs oder Hama lebten oft Zugezogene vom Land nebeneinander und neben der alteingesessenen Stadtbevölkerung. Doch konnten nachbarschaftliche Beziehungen auch in der Stadt einen fast familiären Charakter annehmen.

Die Ausgestaltung nachbarschaftlicher Beziehungen hing stark von Geschlecht und Stellung in der Familie ab. Gemeinsam verbrachte Zeit und gegenseitige Hilfe, aber auch soziale Kontrolle und sozialer Druck waren dabei wichtige Elemente. Soziale Kontakte in der Nachbarschaft waren in der Regel häufig, spontan, nicht geplant. Nachbarinnen besuchten sich unangekündigt zum Kaffee und beteiligten sich an der gegenseitigen Kinderbetreuung. Wurden arbeitsaufwendige Gerichte gekocht, kamen oft Nachbarinnen dazu, um zu helfen. Darüber hinaus war es üblich, symbolische Essensgaben mit den Nachbar*innen zu tauschen, beispielsweise indem sie einen Teller von den aufwendigen Mahlzeiten bekamen, die im Fastenmonat Ramadan allabendlich gekocht wurden.

Nachbarn besuchten sich bei wichtigen Ereignissen wie Hochzeiten oder Beerdigungen, aber auch zu religiösen Festen. Wenn große Zahlen von Gästen bewirtet wurden, konnten in der Nachbarschaft nicht nur Stühle geliehen, sondern unter Umständen sogar Übernachtungsgäste untergebracht werden. In finanziellen Notsituationen, wenn z.B. eine teure Operation notwendig wurde, konnte in der Nachbarschaft Geld gesammelt werden. Die Nachbarschaft funktionierte so auch als soziales Sicherheitsnetz in einem Land, in dem es staatliche Absicherung, beispielsweise durch Krankenversicherung oder Sozialhilfe, nicht gab.

Die Kehrseite der engen Kontakte war die starke soziale Kontrolle innerhalb der Nachbarschaft. Ein Sprichwort aus Aleppo besagt: »Wer so ist wie wir, soll zu uns kommen« (al-li mithlna ta’al la-andna). Bestimmte Nachbarschaften wurden oft mit einer bestimmten Einwohnerschaft in Verbindung gebracht; so galten manche Viertel als besonders konservativ oder religiös, andere als liberaler und offener; manche waren ethnisch oder konfessionell geprägt und wurden beispielsweise als »christliches«, »kurdisches« oder »beduinisches« Viertel wahrgenommen. Menschen, deren soziale Herkunft oder Lebensstil sich von denen der Nachbar*innen abhoben, hatten es oft schwer, in einer Nachbarschaft akzeptiert zu werden; teilweise wurden Wohnungen in Mehrfamilienhäusern auch nur an Familien abgegeben, die sich religiös und sozial in die Nachbarschaft einfügten. Es gab jedoch auch Gegenden, in denen Bewohner*innen ganz unterschiedlicher sozialer Herkunft miteinander lebten.

Im Migrationskontext stellten viele syrische Geflüchtete fest, dass Nachbarschaft in Deutschland anders funktioniert. Spontane Besuche zum Kaffee sind (nicht nur unter Nachbarn) eine Ausnahme; meist werden soziale Kontakte geplant und oft lange im Voraus verabredet. Der Wunsch nach Privatsphäre und Zurückhaltung mancher deutscher Nachbar*innen wirkt auf viele Geflüchtete aus Syrien befremdend und isolierend (andere beschreiben diese Zurückhaltung allerdings auch als erleichternd). So empfinden manche Syrer und Syrerinnen die sozialen Beziehungen in Deutschland als »kalt« und beschreiben ihre Erfahrungen von Nachbarschaft in Deutschland als einen Mangel an sozialen Beziehungen.

»Wir kennen die deutschen Nachbarn hier, aber wir haben keinen Kontakt zu ihnen. Die türkischen Nachbarn sind sehr nett. Sie kommen zu uns und wir besuchen sie.«

Mahmud*, 27, der seit 2014 in Leipzig lebt, im Interview mit der Soziologin Hilal Alkan, 2018.

Die Forschung der Ethnologin Sarah Jurkiewicz mit jungen syrischen Müttern in Berlin Marzahn zeigt ähnliche Erfahrungen mit deutschen Nachbar*innen. Als sie 2019 über das Leben in Deutschland sprach, stellte Barin*, eine junge Frau aus Syrien, die rhetorische Frage, was das denn für ein Leben hier sei. Sie versuche, mit den Nachbar*innen in Kontakt zu treten, grüße beispielsweise ihre direkte Nachbarin immer, doch diese antworte nicht einmal. Barin erlebte das Leben ohne nachbarschaftliche Kontakte als »kein richtiges Leben« – da ein entscheidender Teil fehlt.

Eine andere Interviewpartnerin von Sarah Jurkiewicz, Hiba*, die ebenfalls in Berlin lebt, beschrieb, wie sie beharrlich versuchte, zu ihrer Nachbarin Kontakt aufzubauen, sie zunächst immer freundlich grüßte und dann zum Tee einlud. Diese habe aber immer erst abweisend reagiert. Erst nach ganz vielen Anläufen und Anbieten von Essen sei sie »aufgetaut«. Heute seien sie gut befreundet, die ältere Nachbarin lebe inzwischen in einem Altersheim, rufe sie an und sage, dass sie sie vermisse.

Gesprächspartner*innen von Hilal Alkan, die nach der Flucht aus Syrien zunächst in der Türkei gelebt hatten, beschrieben, dass sich nach ihrer Erfahrung nachbarschaftliche Beziehungen in der Türkei und in Syrien ähnelten und von jenen in Deutschland unterschieden.

»Die Nachbarn [in der Türkei] kamen zu jedem islamischen Festtag oder jedem Anlass. Sie kamen zu uns oder wir gingen zu ihnen. Unsere Kinder spielten zusammen auf der Straße und sie liebten meine Töchter. Bis heute wünschen sie sich, dass wir nach Istanbul zurückkommen und sie wiedersehen«

Nadiya*, 32, in einem Gespräch in Berlin 2018 über ihre Nachbarn in Istanbul. Ihre Schwiegermutter, die in der Türkei blieb und nicht mit nach Deutschland kam, hat bis heute enge Kontakte zu jenen Nachbarn.

Wie das Sprichwort sagt, sind gute Nachbar*innen für viele Syrer*innen wichtiger als eine schöne Wohnung. So ist der Versuch, gute nachbarschaftliche Verhältnisse aufzubauen, auch ein  Versuch, sich wieder zu Hause zu fühlen.

* Um die Gesprächspartner*innen zu schützen, wurden die Namen der im Text zitierten und erwähnten Personen geändert.

Einen anderen Raum betreten