Tiefe Wurzeln

Ländliche Räume als Heimat und Ressource

Mahmud*, 76, und seine Frau Zeinab*, 63, leben in einer Zweizimmerwohnung im Hochparterre. Entlang ihrer kleinen Terrasse haben sie Petersilie, Minze und einige Tomaten gepflanzt, die sie sorgfältig pflegen und ernten. Gleichzeitig verfolgen sie besorgt das Schicksal der Pflanzen, die sie in ihrem Heimatdorf in Nordsyrien zurückgelassen haben. Mehrmals in der Woche sprechen sie über FaceTime oder WhatsApp mit Verwandten, die noch im Dorf wohnen, und fragen nach dem Zustand ihrer Bäume, nach der Ernte und den Erträgen.

Die Regionen Syriens sind nicht nur hinsichtlich der Demografie, sondern auch naturräumlich und landwirtschaftlich sehr unterschiedlich. Mit Damaskus und Aleppo liegen einige der ältesten Städte der Welt in Syrien. Hier befinden sich jedoch auch jahrtausendealte Kulturlandschaften, in denen Obst- und Olivenbäume kultiviert werden. In anderen Regionen wird Getreide angebaut und die östlichen Steppengebiete werden seit jeher für (halb)nomadische Viehzucht genutzt.

Der Gegensatz zwischen Stadt und Land war und ist bis heute ausgeprägt. Die Versorgung mit Infrastruktur – insbesondere der Zugang zu medizinischer Versorgung und Schulbildung, aber auch Kommunikations- und Transportnetze – war in ländlichen Regionen oft deutlich schlechter als in den urbanen Zentren. Daher zogen immer mehr Menschen in die Städte. Auch Mahmud und Zeinab waren Mitte der 1970er Jahre aus ihrem Dorf nach Aleppo gezogen, als ihre Kinder ins schulpflichtige Alter kamen, um ihnen eine gute Schulbildung zu ermöglichen.

Gleichzeitig waren städtische und ländliche Räume im Alltag eng miteinander verbunden. Auch nach dem Umzug in die Stadt blieben Verbindungen zum Heimatdorf oft eng. Landbesitz und Landwirtschaft boten vielen Familien eine zusätzliche Einkommensquelle zu Lohnarbeit oder staatlichen Gehältern, die selbst bei hochqualifizierten Tätigkeiten oft kaum zum Leben ausreichten. Oft folgte so auch das Leben in der Stadt einem landwirtschaftlichen Rhythmus. Bewässerung, Pflügen oder Erntearbeiten erforderten regelmäßig Aufmerksamkeit und Arbeit. Mahmud und Zeinab zum Beispiel verbrachten jeden Herbst mehrere Wochen im Dorf, um sich dort um die Olivenernte zu kümmern – ohne das jährliche Einkommen aus dem Olivenölverkauf hätten sie den Alltag in der Stadt nicht finanzieren können. Ihre Kinder, die in der Stadt zur Schule gingen, mussten sich währenddessen selbst versorgen.

Verwandtenbesuche, Feiertage und Feste, Schulferien und Beerdigungen waren weitere Anlässe für kürzere oder längere Besuche auf dem Land. Oft galten Zugewanderte vom Land, die sich in Sprache/Dialekt, Kleidungsstil, Lebensgewohnheiten von den Städtern unterschieden, den Einwohnern der syrischen Metropolen als ungebildet und rückständig. Die Herkunftsregion prägte somit auch die soziale Zugehörigkeit, und allgemein wurde die Zuschreibung sozialer Identitäten stark über lokale Herkunft definiert: Stammte beispielsweise eine Person aus der Region Suweida, konnte man annehmen, dass sie zur ethno-konfessionellen Gruppe der Drusen gehörte, die Herkunft aus der Region Deir ez-Zor oder Raqqa deutete auf beduinische oder tribale arabische Zugehörigkeit, aus den Gebieten um Afrin, Amuda oder Qamishli auf kurdische Ethnizität, usw.

Der syrische Staat schrieb die über Generationen fortdauernde Bindung an familiäre Herkunftsregionen zudem bürokratisch fest: Die Ausstellung und Erneuerung grundlegender Dokumente wie Familienstammbuch, Geburtsurkunden, Personalausweise, usw. beruhte auf dem Eintrag einer Familie im Zivilregister. Die lokalen Büros des Zivilregisters (nufus) waren also weiterhin für all jene Familien zuständig, deren Vorfahren (in männlicher Linie) ursprünglich aus der betreffenden Region stammten, selbst wenn die Familie seit mehreren Generationen nicht mehr dort wohnte. Bis 2011 mussten Behördengänge zur Ausstellung eines Personalausweises, Verschiebung des Militärdienstes usw. vor Ort erledigt werden. Sie erforderten jeweils eine Reise zum zuständigen Zivilregisterbüro in der Herkunftsregion einer Familie. Dies konnte einen beträchtlichen zusätzlichen Aufwand an Zeit und Kosten sogar bei »einfachen« Behördengängen bedeuten. Auch nach der Umstellung auf ein elektronisches System 2011, das diese Reisen überflüssig machte, wurde die Akte einer Person weiter am Herkunftsort der Familie geführt.

Angesichts der jahrzehntelangen infrastrukturellen Vernachlässigung der ländlichen Räume sowie steigender Ungleichheit und Verarmung in den 2000ern infolge neoliberaler Reformen und einer schweren Dürreperiode überrascht es nicht, dass gerade zu Anfang der Aufstand gegen das Asad-Regime vor allem von kleineren Orten ausging. Wegen ihrer Kreativität berühmt wurden beispielsweise die sarkastischen Slogans aus der Kleinstadt Kafranbel.

Im syrischen Bürgerkrieg wurden ab 2012 Dörfer und Kleinstädte zu einer wichtigen Rückfallressource für viele, die aus den zerstörten und umkämpften Städten flüchteten. Dies veränderte die ländlichen Räume beträchtlich. An manchen Orten, speziell an der Grenze zur Türkei, entstanden Flüchtlingslager. In anderen Regionen etablierten sich sogar in Dörfern Handwerks- und kleine Industriebetriebe wie Nähwerkstätten. Durch den Zuzug von Binnenflüchtlingen aus anderen Regionen wuchsen gerade kleinere Kreisstädte stark an. So veränderte sich die lokale Demografie.

Andererseits wurden auch ländliche Gebiete zum Kriegsschauplatz. Das syrische Regime, aber auch Milizen, die gegen das Regime kämpfen, machten die Natur zur Waffe. Um schnellen Gewinn zu machen oder bestimmte Bevölkerungsgruppen und politische Parteien unter Druck zu setzen, steckten sie Getreidefelder in Brand, hackten Obstbäume ab, stahlen Getreidevorräte und Olivenöl. Diese wurden teilweise in Syrien verkauft, teilweise außer Landes geschmuggelt und nach Europa exportiert. Enteignungen von Wohnraum und Landbesitz durch Kriegsparteien auf unterschiedlichen Seiten schränkten die Lebensgrundlagen vor Ort weiter ein.

Auch Mahmud und Zeinab sind von diesen Entwicklungen betroffen. Ihr Heimatdorf ist seit 2018 von islamistischen Milizen unter Kontrolle der Türkei besetzt, die einen Teil ihrer Olivenbäume abgeholzt und als Brennholz verkauft haben. Ein Vetter, der noch im Dorf wohnt, kümmert sich um die Pflege der Bäume, so gut es geht; doch den Milizen gegenüber ist er machtlos. Wie Mahmud und Zeinab verfolgen viele syrische Geflüchtete in Deutschland die Ereignisse in ihren Herkunftsregionen mit Sorge und Trauer. Gerade ältere Menschen, die viele Jahre ihres Lebens mit Anbau und Pflege ihrer Pflanzen verbracht haben, trauern um gefällte Obstbäume und verwüstete Felder. Ihre jahrzehntelange Arbeit, oft auch die Mühe vorhergehender Generationen, wurde binnen kürzester Zeit zerstört. Gleichzeitig erscheint eine Rückkehr in die Heimat, in der wichtige Einkommensmöglichkeiten und Lebensgrundlagen wegbrechen, immer unrealistischer.

* Alle Namen im Text sind Pseudonyme, teilweise sind die Personen leicht verfremdet, um eine Wiedererkennung auszuschließen.

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