»In Deutschland gibt es eine Art der beruflichen Bildung, die heißt Ausbildung. Dabei lernt der Schüler einen Beruf mehrere Jahre lang, und wenn er dann seinen Abschluss macht, beherrscht er alle Facetten dieses Berufs. Und in Asads Syrien war der Militärdienst die Ausbildung für Korruption, denn vom ersten Tag an brachten sie dir bei, zu bestechen und bestechlich zu sein, sie lehrten dich Stehlen und Plündern, Heuchelei, Erniedrigung und die Zerstörung des Ichs. Der erste Satz ist: Im Militärdienst musst du zusehen, wo du bleibst (dabbir ra’sak). Das ist die erste Lektion […]. Du lernst, dass du in einem Land lebst, in dem du nicht fühlst, dass es dir gehört – im Gegenteil, es ist deine Aufgabe, zu sehen, wo du bleibst, auf allen möglichen Wegen, sogar wenn sie krumm sind.«
Muhammad*, über Facebook
Die Verknüpfung von Militärdienst und (Aus)bildung, die in diesem Facebook-Post hergestellt wird, kommt nicht von ungefähr. In den Jahrzehnten vor dem Aufstand gegen das Assad-Regime waren Militär und Schule als »Erziehungsräume« zwei von Disziplinierung geprägte Institutionen, in denen Syrer dem Staat direkt begegneten.
Das Militär hatte bereits vor 2011 im syrischen Staatsgefüge eine besonders wichtige Stellung. Hafiz al-Assad, Syriens Präsident bis 2000 und Vater des jetzigen Präsidenten Baschar al-Assad, war als Luftwaffengeneral an die Macht gekommen und stützte sich auf das Militär als Machtbasis. Unter Verweis auf den andauernden Konflikt mit dem Nachbarland Israel herrschte zwischen 1963 und 2011 in Syrien formal der Ausnahmezustand. Dieser ermöglichte es dem Regime nicht nur, die Wirtschaft zu kontrollieren und Ressourcen zu rationieren, sondern auch eine nahezu uneingeschränkte Politik der Überwachung und Repression. Die Vielzahl von Geheimdiensten, insbesondere der mächtige Militärgeheimdienst, schufen ein Klima der Angst.
Syrische Bürger wurden auf dreierlei Wegen in die militärische Ordnung einbezogen. Es gab erstens die Möglichkeit, als Berufssoldat zur Armee zu gehen. Gerade Männern einfacher Herkunft, mit wenig Geld oder Bildung bot eine Karriere beim Militär ein sicheres Einkommen.
»In dem Moment, in dem wir die Militärkleidung anzogen, wurden wir zu anderen Menschen. Als Studenten in Zivil waren wir höflich und verantwortungsbewusst; in der Militärkleidung waren wir chaotisch, quatschten die Mädchen auf der Straße an und verwendeten andere Worte als sonst.«
Abdallah*, 48 Jahre
»Ich habe meinen Militärdienst vor dem Krieg abgeleistet, zwischen 2000 und 2002. Weil ich eine Ausbildung an einem Fachinstitut (ma’had) gemacht habe, wurden mir drei Monate erlassen. Wäre ich zur Uni gegangen, wären es sechs Monate weniger gewesen. Warum? Weil du an der Uni jede Woche einen Tag militärisches Training hattest, das wurde angerechnet.«
Samir*, 42 Jahre
Mit Beginn des syrischen (Bürger)kriegs spitzten sich – wie unser kurzer Film zeigt – die mit dem Militärdienst einhergehenden moralischen und politischen Probleme noch einmal zu, denn die Armee wurde nicht nur gegen bewaffnete Aufständische, sondern auch gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt.
* Um die Gesprächspartner*innen zu schützen, wurden die Namen der im Text zitierten und erwähnten Personen geändert.
Diese Webseite präsentiert Forschungsergebnisse des Leibniz-Instituts Moderner Orient und seines Vorhabens ›Normalität und Krise: Die Erinnerung an den Alltag in Syrien als Chance für den Neuanfang in Deutschland‹. Das Vorhaben wurde mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 01UG1840 gefördert. Die ausschließliche Verantwortung für den Inhalt liegt bei den Autor*innen.