Das Leben der Papiere in Deutschland

Syrer*innen in Deutschland sind für ganz unterschiedliche Vorgänge auf offizielle Dokumente aus ihrem Heimatland angewiesen. Dies betrifft beispielsweise Schul- und Universitätszeugnisse, ohne die Ausbildungswege nicht fortgesetzt und erlernte Berufe nicht ausgeübt werden können; Ausweispapiere, insbesondere Reisepässe, müssen vorgelegt und regelmäßig erneuert werden, um einen Aufenthaltsstatus zu erlangen oder zu verlängern; und Dokumente und Urkunden zum Personenstand sind nötig, wenn sich bei Geburten oder Heiraten der Familienstand ändert. Aber offizielle Dokumente in Syrien sind keine unpolitischen oder neutralen Artefakte. Sie können eine rechtskräftige Identität und ein normales Leben ermöglichen und verhindern. Sie werden gebraucht – doch der Zugang zu ihnen unterliegt politischen Machtverhältnissen. Das Leben syrischer Dokumente wirkt über die geographischen Grenzen des Landes hinaus und bindet Syrer*innen in Deutschland auf mitunter paradoxe Weise an den Staat ihrer Herkunft.

Viele syrische Geflüchtete, die Deutschland auf informellen Routen erreichten, haben sich zu Beginn ihrer Flucht entschieden, ihre wichtigen Dokumente nicht den Risiken der gefährlichen Reise auszusetzen. Abir*, Anfang 40, zeigte Veronica Ferreri im Gespräch beispielsweise ihr Archiv geretteter Dokumente aus Syrien. Sie berichtete, wie sie unmittelbar nach ihrer Ankunft in Deutschland ihre Verwandten im Libanon kontaktierte, um nach den Dokumenten zu fragen. Vor der Reise nach Deutschland hatte sie sicherheitshalber ihre Urkunden und Ausweispapiere, darunter selbst die Geburtsurkunden ihrer Kinder, dort zurückgelassen. Dieser Stapel offizieller Dokumente wurde Abir bald nach der Ankunft in Deutschland von den Verwandten zugeschickt. Doch damit war der Prozess des Dokumentebeschaffens noch nicht abgeschlossen. Auf den Erhalt der syrischen Papiere folgte ein mühsamer und kostspieliger Prozess, in dem sie noch vor der Anhörung ihres Asylverfahrens die Urkunden übersetzen und beglaubigen ließ.
Dennoch hatte Abir mehr Glück als viele andere, die ohne Papiere aus Syrien geflohen sind. Sie müssen in Deutschland enorme Anstrengungen unternehmen, um die nötigen Dokumente aus Syrien (wieder) zu beschaffen. Dabei wirken bestimmte Dynamiken des syrischen Kontextes in Deutschland auf ungewollte Weise fort. Dies empfinden diejenigen besonders deutlich (und schmerzhaft), die auf den Fahndungslisten des syrischen Regimes stehen. Die Gründe dafür können vielfältig sein – politischer Aktivismus und die Beteiligung am Aufstand gegen das Regime gehören ebenso dazu wie die Flucht vor dem Militärdienst oder Desertion aus der Armee.

Aus der Ferne syrischer Dokumente (wieder) zu beschaffen erfordert Geduld, Geld und Zeit. Man braucht gute Beziehungen (wasta) zu Bürokrat*innen an einflussreicher Stelle sowie jemanden vor Ort, der als gesetzlicher Vertreter mit einer Generalvollmacht berechtigt ist, die nötigen Behördengänge zu erledigen. Oft erledigen dies Verwandte oder Freunde als Gefälligkeit, in anderen Fällen wird ein Anwalt beauftragt, um diese Fülle von Dokumenten bei staatlichen Institutionen wie dem Zivilregister oder religiösen Gerichten anzufordern und zu sammeln.

Wollen Syrer*innen beispielsweise in Deutschland heiraten, verlangt das deutsche Recht eine Reihe syrischer Dokumente, die nicht älter als sechs Monate sein dürfen und dem Standesamt vorgelegt werden müssen. Hierzu gehört ein Auszug aus dem Zivilregister zur Attestierung der juristischen Identität sowie ein sogenanntes Ehefähigkeitszeugnis zur Bestätigung des unverheirateten Zivilstandes der Person. Diese Dokumente müssen von einem/einer zertifizierten Dolmetscher*in ins Deutsche übersetzt und von einer offiziellen Stelle abgestempelt werden – hierfür ist die deutsche Botschaft in Beirut zuständig.

Diese Dokumente durch einen syrischen Anwalt zu besorgen, ist eine lange und kostspielige Prozedur. Der Erfolg solcher Bemühungen ist nach Erfahrung syrischer Gesprächspartner außerdem ungewiss. Sie sind jedoch unumgänglich, da die nötigen Dokumente nur in Syrien ausgestellt werden können.

Seit 2015 ist der Erwerb bestimmter Dokumente zum Personenstand theoretisch auch über die syrische Botschaft in Berlin möglich, da die syrische Regierung die entsprechenden Verfahren liberalisiert hat. Jedoch bleibt diese Möglichkeit Syrer*innen, die als Flüchtlinge mit vollem Schutzstatus anerkannt sind, verwehrt. Für sie kann der Gang zur syrischen Botschaft dazu führen, dass die deutschen Behörden ihnen den Schutzstatus wieder entziehen. Paradoxerweise führt dies dazu, dass die betroffenen Syrer*innen die nötigen Dokumente direkt bei den Behörden in Syrien besorgen müssen. Dies trifft vom Regime gesuchte Syrer*innen besonders hart, da für sie die Beantragung oder der Erwerb solcher Papiere in Syrien erschwert oder unmöglich ist. Diese paradoxe Situation lässt ihnen nicht viele Optionen – sie sind gezwungen, durch den Einsatz von Geld (also Bestechung) und Beziehungen dennoch an die nötigen Dokumente zu kommen. Aufgrund des komplizierten Prozesses, in dem diese Dokumente dann ausgestellt werden, ist ihr rechtlicher Status unter Umständen nicht ganz eindeutig. Geflüchtete, die in Syrien wegen ihres politischen Aktivismus und ihrer Opposition gegen das Assad-Regime auf der Fahndungsliste stehen, beschrieben im Gespräch mit Veronica Ferreri ihre Anspannung in den Monaten vor ihrer Hochzeit: Neben den oben beschriebenen praktischen Schwierigkeiten, Kosten und Anstrengungen waren sie unsicher, ob die Dokumente aus Syrien rechtzeitig beschafft werden könnten und ob die deutschen Behörden sie anerkennen würden. Hinzu kamen die Sorgen um noch in Syrien lebende Familienmitglieder, die unter schwierigen, ja gefährlichen Umständen die nötigen Behördengänge unternahmen. Als enge Verwandte einer gesuchten Person können auch sie dabei jederzeit festgenommen werden. Darum sehen manche Syrer*innen davon ab, Verwandte oder Bekannte um diese Behördengänge zu bitten, und beauftragen stattdessen einen Rechtsanwalt, soweit dies – auch finanziell – möglich ist.

Das Weiterleben syrischer Dokumente in Deutschland zeigt, dass die Verbindungen zwischen Syrer*innen und dem syrischen Staat auch mit dem «Neuanfang» in Deutschland nicht gekappt sind. Im Gegenteil, diese Verbindungen werden selbst im Ausland reproduziert; und mit ihnen auch eine Konzeption der syrischen Staatsbürgerschaft, die eng mit der Loyalität zur Baath-Ideologie und zum Assad-Regime verbunden ist. Dies gilt selbst in einem Kontext, wo es nicht mehr um die syrische Staatsbürgerschaft an sich, sondern um neue Anfänge in Deutschland geht. Die Reproduktion dieser Beziehung zwischen Syrer*innen und dem syrischen Staat ist tief verwurzelt im deutschen Asylsystem und seinen Widersprüchen. Einer dieser Widersprüche tritt deutlich dort zutage, wo offizielle Dokumente von Syrer*innen aus ihrem Herkunftsstaat verlangt werden, selbst wenn sie vor diesem Staat geflohen sind.

* Alle Namen im Text sind Pseudonyme, teilweise sind die Personen leicht verfremdet, um eine Wiedererkennung auszuschließen.

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