Syrer*innen in Deutschland sind für ganz unterschiedliche Vorgänge auf offizielle Dokumente aus ihrem Heimatland angewiesen. Dies betrifft beispielsweise Schul- und Universitätszeugnisse, ohne die Ausbildungswege nicht fortgesetzt und erlernte Berufe nicht ausgeübt werden können; Ausweispapiere, insbesondere Reisepässe, müssen vorgelegt und regelmäßig erneuert werden, um einen Aufenthaltsstatus zu erlangen oder zu verlängern; und Dokumente und Urkunden zum Personenstand sind nötig, wenn sich bei Geburten oder Heiraten der Familienstand ändert. Aber offizielle Dokumente in Syrien sind keine unpolitischen oder neutralen Artefakte. Sie können eine rechtskräftige Identität und ein normales Leben ermöglichen und verhindern. Sie werden gebraucht – doch der Zugang zu ihnen unterliegt politischen Machtverhältnissen. Das Leben syrischer Dokumente wirkt über die geographischen Grenzen des Landes hinaus und bindet Syrer*innen in Deutschland auf mitunter paradoxe Weise an den Staat ihrer Herkunft.
Aus der Ferne syrischer Dokumente (wieder) zu beschaffen erfordert Geduld, Geld und Zeit. Man braucht gute Beziehungen (wasta) zu Bürokrat*innen an einflussreicher Stelle sowie jemanden vor Ort, der als gesetzlicher Vertreter mit einer Generalvollmacht berechtigt ist, die nötigen Behördengänge zu erledigen. Oft erledigen dies Verwandte oder Freunde als Gefälligkeit, in anderen Fällen wird ein Anwalt beauftragt, um diese Fülle von Dokumenten bei staatlichen Institutionen wie dem Zivilregister oder religiösen Gerichten anzufordern und zu sammeln.
Wollen Syrer*innen beispielsweise in Deutschland heiraten, verlangt das deutsche Recht eine Reihe syrischer Dokumente, die nicht älter als sechs Monate sein dürfen und dem Standesamt vorgelegt werden müssen. Hierzu gehört ein Auszug aus dem Zivilregister zur Attestierung der juristischen Identität sowie ein sogenanntes Ehefähigkeitszeugnis zur Bestätigung des unverheirateten Zivilstandes der Person. Diese Dokumente müssen von einem/einer zertifizierten Dolmetscher*in ins Deutsche übersetzt und von einer offiziellen Stelle abgestempelt werden – hierfür ist die deutsche Botschaft in Beirut zuständig.
Diese Dokumente durch einen syrischen Anwalt zu besorgen, ist eine lange und kostspielige Prozedur. Der Erfolg solcher Bemühungen ist nach Erfahrung syrischer Gesprächspartner außerdem ungewiss. Sie sind jedoch unumgänglich, da die nötigen Dokumente nur in Syrien ausgestellt werden können.
Seit 2015 ist der Erwerb bestimmter Dokumente zum Personenstand theoretisch auch über die syrische Botschaft in Berlin möglich, da die syrische Regierung die entsprechenden Verfahren liberalisiert hat. Jedoch bleibt diese Möglichkeit Syrer*innen, die als Flüchtlinge mit vollem Schutzstatus anerkannt sind, verwehrt. Für sie kann der Gang zur syrischen Botschaft dazu führen, dass die deutschen Behörden ihnen den Schutzstatus wieder entziehen. Paradoxerweise führt dies dazu, dass die betroffenen Syrer*innen die nötigen Dokumente direkt bei den Behörden in Syrien besorgen müssen. Dies trifft vom Regime gesuchte Syrer*innen besonders hart, da für sie die Beantragung oder der Erwerb solcher Papiere in Syrien erschwert oder unmöglich ist. Diese paradoxe Situation lässt ihnen nicht viele Optionen – sie sind gezwungen, durch den Einsatz von Geld (also Bestechung) und Beziehungen dennoch an die nötigen Dokumente zu kommen. Aufgrund des komplizierten Prozesses, in dem diese Dokumente dann ausgestellt werden, ist ihr rechtlicher Status unter Umständen nicht ganz eindeutig. Geflüchtete, die in Syrien wegen ihres politischen Aktivismus und ihrer Opposition gegen das Assad-Regime auf der Fahndungsliste stehen, beschrieben im Gespräch mit Veronica Ferreri ihre Anspannung in den Monaten vor ihrer Hochzeit: Neben den oben beschriebenen praktischen Schwierigkeiten, Kosten und Anstrengungen waren sie unsicher, ob die Dokumente aus Syrien rechtzeitig beschafft werden könnten und ob die deutschen Behörden sie anerkennen würden. Hinzu kamen die Sorgen um noch in Syrien lebende Familienmitglieder, die unter schwierigen, ja gefährlichen Umständen die nötigen Behördengänge unternahmen. Als enge Verwandte einer gesuchten Person können auch sie dabei jederzeit festgenommen werden. Darum sehen manche Syrer*innen davon ab, Verwandte oder Bekannte um diese Behördengänge zu bitten, und beauftragen stattdessen einen Rechtsanwalt, soweit dies – auch finanziell – möglich ist.
Das Weiterleben syrischer Dokumente in Deutschland zeigt, dass die Verbindungen zwischen Syrer*innen und dem syrischen Staat auch mit dem «Neuanfang» in Deutschland nicht gekappt sind. Im Gegenteil, diese Verbindungen werden selbst im Ausland reproduziert; und mit ihnen auch eine Konzeption der syrischen Staatsbürgerschaft, die eng mit der Loyalität zur Baath-Ideologie und zum Assad-Regime verbunden ist. Dies gilt selbst in einem Kontext, wo es nicht mehr um die syrische Staatsbürgerschaft an sich, sondern um neue Anfänge in Deutschland geht. Die Reproduktion dieser Beziehung zwischen Syrer*innen und dem syrischen Staat ist tief verwurzelt im deutschen Asylsystem und seinen Widersprüchen. Einer dieser Widersprüche tritt deutlich dort zutage, wo offizielle Dokumente von Syrer*innen aus ihrem Herkunftsstaat verlangt werden, selbst wenn sie vor diesem Staat geflohen sind.
* Alle Namen im Text sind Pseudonyme, teilweise sind die Personen leicht verfremdet, um eine Wiedererkennung auszuschließen.
Diese Webseite präsentiert Forschungsergebnisse des Leibniz-Instituts Moderner Orient und seines Vorhabens ›Normalität und Krise: Die Erinnerung an den Alltag in Syrien als Chance für den Neuanfang in Deutschland‹. Das Vorhaben wurde mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 01UG1840 gefördert. Die ausschließliche Verantwortung für den Inhalt liegt bei den Autor*innen.