In den ersten Jahren der Revolution hatte die Türkei, Syriens nördlicher Nachbar, ihre Grenzen für flüchtende Syrer*innen zunächst offengelassen. Die meisten von ihnen kamen direkt aus den Grenzregionen, aber als die Reaktionen des syrischen Regimes auf die revolutionären Bestrebungen gewaltsamer wurden und die Kämpfe zunehmend urbane Zentren wie Aleppo betrafen, stiegen die Zahlen von Geflüchteten in der Türkei exponentiell an.
Stand 2021 leben 3,6 Millionen syrische Staatsangehörige in der Türkei. Sie sind zwar nicht als Geflüchtete nach internationalem Recht anerkannt, erhielten aber den Status des temporären Schutzes. Dieser gewährt ihnen Zugang zu bestimmten sozialen Rechten wie Aufenthalt, Bildung und Gesundheitsversorgung, er berechtigt sie jedoch nicht automatisch zu einer Arbeitsgenehmigung. Prinzipiell besteht für Syrer*innen zumindest die rechtliche Möglichkeit Arbeitsgenehmigungen erwerben, in der Praxis werden diese allerdings nur selten erteilt.
»Als ich als Trainer in einem Fitnessstudio in Izmir gearbeitet habe, musste ich 13 Stunden lang arbeiten. Ich musste 45 Minuten fahren, um zur Arbeit zu gelangen, und 45 Minuten zurück. Also beinahe 15 Stunden für die Arbeit. Ich musste sechs Stunden schlafen und essen. Ich hatte also jeden Tag nur eineinhalb bis zwei Stunden für mich selbst und meine Familie.»
Maheer*
Dr. Hilal Alkan hat eine Untersuchung mit syrischen Migrant*innen durchgeführt, die mindestens sechs Monate in der Türkei gelebt haben, bevor sie nach Deutschland geflüchtet sind. Ziel war es, ihre Entscheidungen zur Migration zu verstehen. Die Befragten nannten viele Gründe dafür, sich in der Türkei niederzulassen. Zuallererst waren sie dort sicher. Außerdem hatten sie dort oft bereits größere Familien- und Gemeinschaftsnetzwerke und blieben in geographischer Nähe zu Syrien. Letzteres half ihnen zum einen Hoffnung auf eine Rückkehr zu bewahren und zum anderen, aus dem Exil den politischem Kampf in Syrien weiterzuführen. Außerdem gaben viele an, dass sie sich in der Türkei in einer kulturell vertrauten Atmosphäre befänden; für einige spielte auch die gemeinsame Religion – der Islam – eine Rolle. Viele schätzten die Gesellschaft ihrer türkischen Nachbar*innen. Trotz all dieser Gründe, sich in der Türkei aufzuhalten, verließen viele, vor allem junge Menschen aus der Mittelschicht, die Türkei und nahmen zahlreiche Risiken auf sich, um nach Deutschland zu kommen.
»Im Allgemeinen ist das Leben in der Türkei viel hübscher als hier. Ich meine spirituell. Ich habe mich dort viel wohler gefühlt.«
Yassin*
Um die Gründe dafür zu verstehen, müssen wir uns die materiellen Bedingungen anschauen. Es wird geschätzt, dass mindestens eine Million Syrer*innen Teil der informellen Arbeitskräfte in der Türkei sind. Für Lehrer*innen, Angestellte im medizinischen Bereich und Ingenieur*innen ist es schrittweise möglich geworden, in ihren jeweiligen Fachgebieten zu arbeiten. Allerdings war es besonders in den ersten Jahren der Migration für nahezu alle Syrer*innen die Regel, unqualifizierte Arbeiten auf dem informellen Arbeitsmarkt zu verrichten. Sogar Menschen mit Hochschulbildung mussten schlechtbezahlte Jobs ohne Sozialversicherung annehmen, um ihre Miete zu bezahlen und in großstädtischen Zentren wie Istanbul überleben zu können. Sie waren, wie heute immer noch die meisten Syrer*innen in der Türkei, im Bau-, Textil- oder Lebensmittelsektor und in der saisonalen Landwirtschaft tätig. All diese Arbeitsbereiche sind berüchtigt für ihre langen Arbeitszeiten, Unsicherheit und geringe Bezahlung.
»Wir hatten ein Sozialleben in der Türkei, wir hatten Nachbarn. Hier haben wir das nicht. Aber Arbeiten war die Hölle dort. Ich musste jeden Tag 12 bis13 Stunden arbeiten. Ich konnte nicht einmal meine Töchter wach sehen.«
Zelal*
Die extrem harten Arbeitsbedingungen bedeuteten, dass viele ambitionierte junge Syrer*innen sich eine Zukunft in der Türkei weder vorstellen noch Schritte zu ihrer Verwirklichung unternehmen konnten. Sie verwendeten all ihre Energie, Zeit und Ressourcen auf die Sicherung des Überlebens und hatten weder Zeit noch Geld, die Sprache zu lernen, ihren Bildungsweg fortzusetzen, sich auf Prüfungen vorzubereiten oder auch nur Zukunftspläne zu schmieden. Sie steckten in einer Gegenwart fest, die vom Kampf um den Lebensunterhalt bestimmt war.
Dr. Alkans Forschung zeigt, dass diese Syrer*innen schließlich nach Deutschland geflohen sind, um die Zeit wieder in Richtung einer Zukunft fließen zu lassen – um ihr Leben also in Gang zu bringen und zu verbessern. Auch wenn sie vor neuen Schwierigkeiten stehen würden (und dies in weit größeren Ausmaß, als sie sich vorstellen konnten), wären sie schließlich auf dem Weg zu einem normalen Leben. In diesem normalen Leben wie sie es sich vorstellten, würde es respektable Arbeit, nette Familien, ein ausreichendes Einkommen für ein komfortables Leben und einen Pass geben, der ihnen erlaubte, wenn nicht nach Syrien, dann zumindest in die Türkei, den Libanon oder nach Jordanien zu reisen, um dort lebende Verwandte zu besuchen. Das Leben würde weitergehen wie es sollte, die Zeit würde in einem beständigen, normalen Rhythmus vergehen, anders als in der Türkei. Sie würden eine Zukunft haben.
Aber nach 6 Jahren bleibt die Frage zumindest offen, wie nah diese Zukunft gerückt ist.1
* Um die Gesprächspartner*innen zu schützen, wurden die Namen der im Text zitierten und erwähnten Personen geändert.
1 Mehr darüber, wie sich diese »Zukunft« für hochqualifizierte Syrer*innen gestaltete, hat Sam Zamrik, seit 2015 in Deutschland lebender geflüchteter Musiker aus Damaskus, in seinem Kommentar »Nummeriert und abgeheftet« in der TAZ beschrieben.