Das Hawala-System

Lange Schlange von Menschen vor einem Hawala-Büro in Syrien.

In Syrien leben aufgrund der aktuellen schweren Wirtschafts- und Währungskrise viele Menschen in absoluter Armut, aber auch die Situation von syrischen Geflüchteten in den Nachbarländern wie dem Libanon, dem Irak oder der Türkei ist oft prekär. Verstärkt durch die Coronapandemie kämpfen viele mit großen Einkommensverlusten. Zudem verlor durch den Bürgerkrieg die syrische Währung massiv an Wert, sodass selbst Grundnahrungsmittel und Medikamente für den Großteil der Bevölkerung unerschwinglich werden. Viele Syrer*innen in Deutschland schicken daher regelmäßig größere oder kleinere Beträge an Großeltern, Eltern oder Geschwister, mitunter auch zusammen mit weiteren Verwandten in Deutschland. Die Geldsendungen aus dem Ausland wurden besonders in den letzten Jahren für Syrer*innen immer wichtiger.

»Im Krieg leiden alle unter Armut. Ich glaube nicht, dass es jetzt momentan Leute gibt, denen es super gut geht. Denn alle brauchen Unterstützung. Die Armen sind derjenigen, die heutzutage niemanden im Ausland haben. Ich habe vor kurzem mit meinem Vater geredet und er hat gesagt, dass es ihm und meiner Mutter ohne meine Hilfe aus Europa schlecht gehen würde. Und ich frage mich dann, wie viele Menschen gibt es jetzt in Syrien, die keine Unterstützung vom Ausland bekommen?«

Hussein*

Viele in Deutschland lebende Geflüchtete, die oft selbst während ihrer Flucht von Verwandten finanziell unterstützt wurden, fühlen eine große Verantwortung für die in Syrien oder benachbarten Fluchtländern lebenden Verwandten. Sie kämpfen mit Gewissensbissen, weil sie im Gegensatz zu vielen anderen in Sicherheit und relativem Wohlstand leben.

»Ab und zu Geld zu senden tut gut, damit ich mit gutem Gewissen ins Bett gehen kann, denn wie gesagt, ich lebe hier im Wohlstand und sie leiden in Syrien sehr. Manchmal habe ich das Gefühl, dass sie auf mich zählen und das setzt mich unter Druck hier, weil ich ja auch nicht viel habe, aber klar, mehr als sie in Syrien«

Hamdi*

Die Sorge und das Verantwortungsgefühl gegenüber zurückgelassenen Verwandten und Freunden hat dabei nicht nur psychische, sondern auch konkrete materielle Auswirkungen. Denn obwohl viele geflüchtete Syrer*innen in Deutschland selbst zum ärmsten Bevölkerungsteil gehören und ihr Einkommen manchmal kaum für Alltagsausgaben reicht, versuchen sie zusätzlich zu sparen, um ihren Familien in Syrien und anderen Fluchtländern außerhalb Europas auszuhelfen.

»Die Menschen sind dort in Not und auf unsere Hilfe angewiesen, also die Hilfe, die von Europa und allgemein aus dem Ausland kommt. Diese Hilfe allein hält meiner Meinung nach die Menschen dort am Leben. Und das Geld, das ich nach Syrien schicke, geht von meinem Jobcentergeld ab. Das bedeutet, dass ich weniger rauchen und weniger auswärts essen oder eine Weile nichts mehr einkaufen darf.«

Hussein*

Manche legen trotz eigenem Sozialleistungsbezug das ganze Jahr über kleine Summen zurück, um für besondere Notfälle eines Familienmitglieds in den Krisenländern, z.B. einen plötzlichen Unfall, vorzusorgen. Sparen bedeutet in diesem Fall den alltäglichen Verzicht auf persönliche materielle Bedürfnisse, aber auch einen Verlust von gesellschaftlicher Teilhabe. Beispielsweise versorgen sich manche Geflüchtete bei den »Tafeln« mit Lebensmitteln. Andere verzichten auf Vereinssport oder Verabredungen mit Freund*innen, aus Sorge, dabei zu viel auszugeben.
Die Geldsendungen an Familienangehörige in Syrien erfolgen dabei meistens über das sogenannte »Hawala-System«. Bei dieser Form des Geldtransfers wird einer Kontaktperson in Deutschland Geld gegeben und eine weitere Kontaktperson im Zielland zahlt das Geld unter Einbehaltung einer Gebühr in der an die bedürftigen Angehörigen aus.

»Bei uns in der Heimat gibt es dieses Western-Union-System nicht. Es gibt andere Wege. Zum Beispiel das Hawala-System, viele finden dieses System nicht gut oder illegal, aber da sage ich immer: Wenn meine Familie, die sich jetzt im Krieg befindet und kein Geld hat, um Unterstützung bittet, dann sage ich nicht, oh das Hawala System ist nicht gut, sondern ich versuche ihnen natürlich schnell zu helfen. Und es gibt wirklich keine anderen Wege.«

Mustafa*

Wie Mustafa ist vielen syrischen Geflüchteten bewusst, dass dieses System und umstritten ist; nicht zuletzt deswegen, weil auch Terrororganisationen wie der IS auf solchen Wegen finanziert werden. Doch Alternativen zum Hawala-System gibt es kaum. Zum einen haben die wenigsten Menschen in Syrien gegenwärtig ein Bankkonto. Das war im Übrigen auch schon vor dem Krieg so. Auch private Anbieter von internationalen Geldtransfers, wie etwa Western Union oder Moneygram, waren bereits vor dem Krieg in Syrien kaum vertreten. Aufgrund der Kriegssituation sind auch die eingeschränkten Möglichkeiten für Geldtransfers, die es vor 2011 gab, zusammengebrochen. So stellt das Hawala-System einen schnellen und unbürokratischen Weg dar, Verwandten in den Krisengebieten zu helfen.

* Um die Gesprächspartner*innen zu schützen, wurden die Namen der im Text zitierten und erwähnten Personen geändert.

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