Armutswahrnehmung aus Sicht syrischer Geflüchteter

Viele Menschen in Deutschland erhalten ALG II-Leistungen, auch als Hartz IV bekannt. ALG II-Empfänger*innen gehören zu den ärmsten Bevölkerungsgruppen in Deutschland. Häufig leiden sie nicht nur unter finanzieller Knappheit, sondern fühlen sich auch gesellschaftlich ausgeschlossen, stigmatisiert oder fremdbestimmt. Da syrische Geflüchtete in Deutschland viele Hürden auf dem Weg in den Arbeitsmarkt nehmen müssen, erhält auch ein Großteil von ihnen ALG II-Leistungen.

Auch junge und gut ausgebildete geflüchtete Menschen wie der junge Arzt in unserer Geschichte, nennen wir ihn Ahmad, benötigen zunächst häufig finanzielle Unterstützung durch das Jobcenter. Während des Spracherwerbs oder der Weiterqualifizierung bleibt meist nicht die Zeit für eine volle Erwerbstätigkeit, die ohne ausreichende Sprachkenntnisse auch nur in bestimmten Bereichen möglich ist, und eine finanzielle Unterstützung durch die Familie ist weggebrochen. Ob sie in Syrien arm oder reich waren, gebildet oder ungebildet sind, in Deutschland sitzen in der Phase nach dem Ankommen viele syrische Geflüchtete im gleichen Boot: Sie gehen zu Integrationskursen und beziehen Leistungen vom Jobcenter. Doch wie die Forschung von Agit Kadino zeigt, empfinden sie den Erhalt von ALG-Leistungen nicht unbedingt als Ausdruck von Armut oder Stigmatisierung. Dies hat verschiedene Gründe.

Junge Geflüchtete wie Ahmad* zum Beispiel sind häufig äußerst optimistisch, dass sie nur vorübergehend auf ALG II angewiesen sein werden. Jobcenterleistungen während der Phase des Ankommens zu beziehen, sehen sie deshalb nicht als Zeichen des Scheiterns oder als Endstation, sondern als Starthilfe. In dieser Hinsicht grenzen sich manche syrische Geflüchtete von lange in Deutschland lebenden ALG II-Empfänger*innen ab. Sie bezeichnen die »einheimischen« Hartz IV-Empfänger*innen als wirklich arm, da sie trotz ihrer Sozialisation in Deutschland auf Sozialleistungen angewiesen und gesellschaftlich ausgeschlossen seien. Bei Syrer*innen sei dagegen die Flucht zunächst der Hauptgrund für den Bezug der ALG II-Leistungen, nicht etwa gesellschaftlicher Ausschluss oder mangelnde Bildung, Gesundheit oder Fähigkeiten.

»Bis wir […] alles erkennen und kennenlernen, brauchen wir Zeit. Und dafür benötigen wir auch Hilfe. […] Also Fremde, die neu nach Deutschland gekommen sind, sind nicht unbedingt arm, wenn sie beim Jobcenter sind. Aber Einheimische oder Deutsche, die beim Jobcenter sind, sind meiner Meinung nach arm. Denn Geflüchtete, die alles zurücklassen in ihren Heimatländern und in einem fremden Land leben, fangen bei Null an.«

Ahmad*

Syrische Geflüchtete vergleichen ihren Lebensstandard in Deutschland oft mit dem vor ihrer Flucht. Menschen, die in Syrien in großer Armut lebten, fühlen sich trotz des ALG II-Bezugs in Deutschland oft finanziell und sozial gesicherter. In Syrien existierte beispielsweise keine staatliche Absicherung in Form von Arbeitslosengeld oder Krankenversicherung. Gerade ärmere Menschen lebten daher in permanenter Angst, krank zu werden, da sie sich dort keine ärztliche Behandlung leisten konnten.

Für andere syrische Geflüchtete hingegen bedeutet der Hartz IV-Bezug einen sozialen Abstieg. Dies verdeutlicht das Beispiel des Militärbeamten aus unserer Geschichte, der gesellschaftlich gesehen in Syrien zur Mittelschicht gehörte. Staatliche Angestellte wie er hatten ein sicheres, wenn auch oft bescheidenes Einkommen und besaßen meist Wohneigentum (Mietverhältnisse waren in Syrien seltener als in Deutschland). Als Geflüchtete, die Hartz IV-Leistungen beziehen und zur Miete wohnen, haben gerade ältere Geflüchtete aus dieser Schicht oft wenig Chancen, sich in Deutschland einen vergleichbaren Lebensstandard oder eine vergleichbare berufliche Perspektive aufzubauen. Anders als die jüngeren Syrer*innen, die in Deutschland oft viele Verwirklichungschancen sehen, fallen ihnen die Anpassung an die neuen Lebensumstände auch das Knüpfen sozialer Kontakte oft schwer.

»Also uns ging es in Syrien ganz gut. Mein Vater war Angestellter in einer Ölfirma. Wir haben in Syrien unser eigenes Haus gebaut und für mich war es auch gut. Ich bin wie jeder Junge zur Schule gegangen bis 2011, dann war das nicht mehr so schön. Und hier in Deutschland hat sich für mich nicht viel geändert. Ich ging auch hier zur Schule, genau wie in Syrien, und habe auch hier Freunde gefunden. Aber für meine Eltern ist das vielleicht ein bisschen schwer. Mein Vater, der sein ganzes Leben gearbeitet hat, lebt hier auf einmal in einer Mietwohnung und hat keinen Job. Für uns junge Leute ist es noch ok, wir können hier noch was erreichen.«

Aboud*

Bei der Bewertung und Wahrnehmung von Armut spielt auch die aktuelle Situation in Syrien eine entscheidende Rolle, da fast alle Geflüchteten in engem Austausch mit in Syrien oder in benachbarten Staaten zurückgebliebenen Verwandten stehen. Viele von ihnen leiden an Nahrungsmittelknappheit oder Obdachlosigkeit, haben keinen Zugang zu Bildung und medizinischer Versorgung. Trotz der eigenen angespannten finanziellen Situation in Deutschland versuchen Geflüchtete häufig, ihren Verwandten in Syrien zu helfen. Auch durch den Vergleich mit deren Lebensumständen würden sich viele Geflüchtete in Deutschland trotz des ALG II-Bezugs nicht als »arm« bezeichnen

* Um die Gesprächspartner*innen zu schützen, wurden die Namen der im Text zitierten und erwähnten Personen geändert.

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