In vielen syrischen Familien ist es in den letzten Jahren zu Konflikten gekommen, zwischen Ehepartnern ebenso wie zwischen Eltern und ihren Kindern. Dabei geht es keineswegs nur um private Spannungen und Streitigkeiten. Vielfach lassen sich auch die politischen Konflikte, die das Land zerreißen, bis in die Familien verfolgen. Bei vielen, insbesondere jungen Syrer*innen führt die kritische Auseinandersetzung mit der autoritären politischen Ordnung des Asad-Regimes auch zu einer kritischen Auseinandersetzung mit patriarchalen, teilweise durch Gewalt geprägten Strukturen und Beziehungen innerhalb der eigenen Familie. Dieser Prozess wurde durch die Demokratiebewegung 2011 in Syrien beschleunigt und intensivierte sich durch die Flucht und die Erfahrungen in der deutschen Aufnahmegesellschaft.
»Was ich in der Kindheit und während der Revolution sowie im Reflexionsprozess in Deutschland erfahren habe, war sehr schmerzhaft und erschöpfend. Aber ich und wir (die Syrer*innen, die 2011 politisch aktiv waren) mussten diese Erfahrungen machen. Es war eine unbedingte Notwendigkeit, um die syrische Gesellschaft in Bewegung zu bringen. Alle Entscheidungen, die ich in diesem Prozess getroffen habe, bedaure ich nicht. Ich bin stolz auf mich. Ich bin trotz allem zufrieden.«
Nolan*, 30 Jahre
In gesellschaftlichen Auseinandersetzungen geht es immer wieder um Vorstellungen von Weiblichkeit und die Rolle der Frau. Auch im syrischen Konflikt ist dies ein wichtiges Thema, wie die sehr unterschiedlichen Bilder und Rollen von Frauen bei verschiedenen ethnischen Gruppen und Konfliktparteien zeigen. Weniger sichtbar, aber genauso wichtig ist die Kehrseite der Medaille, also Vorstellungen von Männlichkeit und Männerrollen. Dabei muss man anmerken, dass die syrische Gesellschaft keineswegs einheitlich war. Gerade in der Mittelschicht gab es einen großen Anteil gebildeter und berufstätiger Frauen, während es in vielen ländlichen Gebieten und ärmeren Schichten meist anders aussah. Innerhalb der Familie und des Haushalts aber, so berichten Angehörige der jungen Generation, die der Soziologe Jamshid Hussein im Rahmen seiner Forschung interviewte, gab es in allen Schichten eine klare Arbeitsteilung zwischen den Eltern. Während Mütter (gemeinsam mit anderen weiblichen Familienmitgliedern) für den Haushalt zuständig waren, nahmen Väter die Rolle des Ernährers der Familie ein und hatten das letzte Wort bei Meinungsverschiedenheiten. In der soziologischen Forschung spricht man von einer Familienordnung, die patriarchal, also pyramidenförmig in Bezug auf Geschlecht und Alter strukturiert war.
»Natürlich, was ich im Jahr 2011 erlebt habe, das hat mich nach der Ankunft in Deutschland sehr beschäftigt. Aber diese Reflexion hat nicht an diesem Punkt aufgehört. Ich habe alles, was ich in Syrien erlebt habe, reflektiert. Ich habe meine politische Entscheidung 2011 in Frage gestellt. […] Ich habe mich auch mit meiner Kindheit und Jugend innerhalb der Familie sowie der Gesellschaft auseinandergesetzt. […] Obwohl ich nach der Ankunft in Deutschland solche Fragen vermeiden wollte, aber irgendwann ging es nicht mehr. Und die zentrale Frage, die mich umgetrieben hat: Was ist mit mir in Syrien geschehen?«
Nolan*, 30 Jahre
Im Laufe der politischen Debatten und Diskussionen, die der Aufstand gegen Assad mit sich brachte, begannen viele Angehörige der jungen Generation, diese patriarchalen Familienstrukturen und damit ihre eigene Sozialisation in der Kindheit in Frage zu stellen und abzulehnen. Dieser Prozess wurde durch die Migration nach Deutschland in vielen Fällen vertieft. Durch den räumlichen Abstand ließ der soziale Druck der Herkunftssozialisation nach; oft fand eine bewusste Neuinterpretation familiärer Erlebnisse und Geschlechterrollen statt. Daraus folgend haben viele junge Syrer*innen neue Perspektiven auf sich selbst und die Welt entwickelt. Dies betrifft nicht nur familiäre Strukturen und Beziehungen, sondern auch das Eintreten für Frauenrechte, die Möglichkeit, queere Beziehungen zu leben, aber auch die Freiheit des Glaubens (oder Nicht-Glaubens) und die gesellschaftliche Mitbestimmung. Teilweise führen diese Neuinterpretationen zu Veränderungen im persönlichen Verhalten, teilweise zu Diskussionen beispielsweise in sozialen Medien, und wirken so auch auf die Gesellschaft in Syrien zurück.
»In dieser Lebensphase bin ich auf einem Höhepunkt, mich selbst zu reflektieren bzw. meine ursprüngliche Sozialisation auszukotzen. Wenn ich aber viel im Kontakt mit meinen Eltern bleiben würde, würden sie vielleicht diese Veränderungen negativ beeinflussen. Sie würden sich gegen mich positionieren und sagen: Warum willst du deine Normen, deine Werte ›auskotzen‹? Du musst diese sozialen Regeln bewahren, statt sie auszukotzen.«
Zorba*
* Alle Namen im Text sind Pseudonyme, teilweise sind die Personen leicht verfremdet, um eine Wiedererkennung auszuschließen.
Diese Webseite präsentiert Forschungsergebnisse des Leibniz-Instituts Moderner Orient und seines Vorhabens ›Normalität und Krise: Die Erinnerung an den Alltag in Syrien als Chance für den Neuanfang in Deutschland‹. Das Vorhaben wurde mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 01UG1840 gefördert. Die ausschließliche Verantwortung für den Inhalt liegt bei den Autor*innen.