Bildung und Disziplin

Erfahrungen mit Schule

Rima* (49) aus Aleppo war Bildung immer wichtig gewesen. In ihrer Familie waren sie und ihre Geschwister die ersten mit Universitätsabschluss, und so verhielt es sich auch mit ihrem Ehemann Ferhad*. Ihre drei Kinder hielt Rima kontinuierlich zum Lernen an; sie schickte sie in privaten Englischunterricht und in Schwimmkurse. Als im Lauf der Kämpfe in Aleppo auch ihre Wohnung zerstört wurde, ging Rima mit ihrer Familie zunächst in ihr Heimatdorf zurück; die Kinder besuchten die dortige Schule. Aber weil Region unter Kontrolle oppositioneller Milizen stand, wurden die Zeugnisse und Abschlüsse vom syrischen Staat nicht anerkannt; der Zugang zu einer weiterführenden Ausbildung oder einem Studium wäre damit nicht möglich. Nach langen Abwägungen entschied sich Rimas Familie schweren Herzens für die Flucht und kam 2015 nach Deutschland. Heute besuchen Rimas Sohn (18) und Tochter (17) die elfte und zwölfte Klasse eines Gymnasiums; die älteste Tochter (20) studiert Ingenieurswissenschaften.

Für viele syrische Kinder bedeuteten die Auseinandersetzungen und Kämpfe der letzten Jahre eine tiefgreifende Unterbrechung ihrer Bildungslaufbahn. Schulen wurden teilweise bombardiert, Schulzeugnisse, die von Behörden unter Kontrolle der Opposition ausgestellt wurden, an keiner Universität anerkannt, und in Fluchtländern wie im Libanon oder in der Türkei müssen viele Kinder zum Lebensunterhalt ihrer Familien beitragen, anstatt die Schule zu besuchen. Wie für Rima war für viele Geflüchtete der Wunsch, ihren Kindern eine sichere Zukunft und auch eine gute Schulbildung zu ermöglichen, eine wichtige Motivation für die Flucht.

Formale Bildung ist und war für viele Syrerinnen und Syrer ein hohes Gut. Syrische Geflüchtete in Deutschland verfügen überdurchschnittlich oft über einen Schulabschluss und streben einen Universitätsabschluss an.1 In Deutschland werden je nach Fachrichtung und Notendurchschnitt syrische Schul- und Universitätsabschlüsse teilweise anerkannt. So stammte 2020 die größte Zahl in Deutschland tätiger ausländischer Ärzte aus Syrien, während Abschlüsse aus anderen Fächern – Jura, Lehramtsstudiengänge u.a. – hier nicht anerkannt werden. Menschen mit praktischer Ausbildung beispielsweise in Handwerksberufen, über die es keinerlei schriftliche Dokumente gibt, gelten trotz manchmal jahrelanger Berufserfahrung als ungelernt.
In Syrien war Bildung gerade für ärmere und ländliche Familien ein Mittel zum sozialen und auch materiellen Aufstieg. Bis 2002 herrschte eine sechsjährige, seitdem eine neunjährige Schulpflicht; wer nach der 9. Klasse von der Schule abging, konnte sich auch selbständig den Stoff für das Abitur erarbeiten und die Prüfung »frei« ablegen. Schule und Studium waren kostenlos; Studienplätze wurden auf Grundlage der Abiturnote vergeben, wobei medizinische Fächer und Ingenieurswissenschaften die besten Noten erforderten. Allerdings gibt es auch – gerade in der älteren Generation – Syrerinnen und Syrer, die gar nicht oder wenige Jahre zur Schule gegangen sind und nur grundlegende Lese- und Schriftkenntnisse haben.

Gespräche mit syrischen Geflüchteten zeigen, dass Schule in Syrien und in Deutschland in vielen Punkten unterschiedlich erfahren wird.

»In Deutschland gibt es die Vorstellung, dass die Kinder in der Schule Spaß haben und ihre Kindheit genießen sollen, das war in Syrien nicht so. In Syrien sollten die Kinder in der Schule nicht spielen, sondern vor allem etwas lernen, und das vom Kindergarten an.«

Sausan*, Mutter von drei Söhnen, die in Aleppo als Lehrerin gearbeitet hat

Viele Gesprächspartner*innen, die in den vergangenen Jahrzehnten eine syrische Schule besuchten, beschreiben diese als Raum von Disziplin und Disziplinierung, der in mancher Hinsicht militärisch geprägt war. Diese Militarisierung von schulischem Lernen und die optische Ähnlichkeit der standardisierten Schulgebäude mit Gefängnissen wurden von syrischen Künstlern wiederholt kritisch thematisiert.
Der Tag begann mit dem Fahnenappell auf dem Schulhof. Die kargen, oft ungeheizten Klassenzimmer wurden aufgrund der großen Schüler*innenzahl meist in zwei Schichten (vormittags und nachmittags) belegt. Die Kinder trugen Schuluniformen in Hellbraun, ab der siebten Klasse in Olivgrün; 2002 wurden diese Farben geändert und nach Geschlechtern differenziert, die Schuluniformen aber beibehalten: sie waren nun blau (für Jungen) bzw. rosa (für Mädchen). Schüler*innen waren in der Grundschule in der Pionierorganisation, dann in der »revolutionären Jugend« der Baath-Partei organisiert. Im »Nationalkundeunterricht« (der auch Prüfungsfach im Abitur war) wurden ideologische Grundlagen des baathistischen Syrien vermittelt und ab der 7. Klasse stand eine Wochenstunde »Militärausbildung« auf dem Lehrplan. Dort lernten die Schüler, militärisch Meldung zu machen, in Reih und Glied zu marschieren und militärische Kommandos zu befolgen. Bis 2002 war die Teilnahme an einem zweiwöchigen militärischen Ausbildungslager (mu’askar) in der 10. Klasse Voraussetzung für den weiteren Schulbesuch und damit für den Besuch der Abiturklassen. An diesem Lager nahmen Mädchen und Jungen gemeinsam teil.

Der Unterrichtsstoff wurde in aller Regel frontal vermittelt. Den höchsten Stellenwert hatten Fächer wie Mathematik und Naturwissenschaften, während Musik, Kunst oder auch Sport zwar auf dem Lehrplan standen, aber meist als unwichtig galten und oft nicht ernsthaft unterrichtet wurden. Um in Prüfungen gut abzuschneiden, wurde der Stoff nach Möglichkeit auswendig gelernt (basm). Dies war unter anderem auch in der mangelhaften Ausstattung der Schulen begründet:

»Wir hatten nur das Lehrbuch und die Tafel zur Verfügung, um den Stoff zu vermitteln. Computer, Modelle, Materialien für Experimente, das alles hatten wir nicht. In der gesamten Schulzeit bis zum Abitur konnten wir im Chemieunterricht vielleicht einmal ein Experiment durchführen.«

Ali*, Lehrer aus Aleppo

»Wir haben den Schülerinnen den Stoff mit dem Löffel gefüttert. Alles haben wir nur theoretisch unterrichtet, sowas wie Projektunterricht oder eigenes Erarbeiten eines Themas gab es nicht.«

Sausan*, Lehrerin aus Aleppo

Weil der Unterricht an den staatlichen Schulen nicht ausreichend auf die Abiturprüfungen vorbereitete – so berichten es Gesprächspartner, die zwischen den 1980er und 2000er Jahren syrische Schulen besuchten – war es selbst für gute Schülerinnen und Schüler üblich, Nachhilfe zu nehmen. Private »Kurse« (daura) wurden nachmittags und abends von Lehrerinnen und Lehrern unterrichtet, die selbst im Schuldienst tätig waren, mit ihrem staatlichen Gehalt aber kaum ihre Familie ernähren konnten. Diese de facto Privatisierung der Bildung wurde ab den 2000er Jahren durch die vermehrte Gründung von Privatschulen und ab 2001 von privaten Universitäten verstärkt.

Obwohl körperliche Bestrafungen formal verboten waren, erlebten viele Gesprächspartner*innen sie als Teil ihres Schulalltags. Manche Lehrkräfte, so schilderten sie, schlugen Schülerinnen und Schüler mit einem Lineal auf die Hände oder zwangen sie, auf einem Bein in der Ecke zu stehen. Ehemalige Lehrer*innen wiesen darauf hin, dass sogar manche Eltern der Meinung waren, ihr Kind könnte mit physischer Gewalt zu besseren Schulleistungen »erzogen« werden:

»Das Fleisch gehört Ihnen, aber die Knochen gehören uns, sagte mir mal ein Vater. Ich wusste zuerst gar nicht, was das bedeuten sollte, aber dann verstand ich es: ich sollte sein Kind in der Schule ruhig schlagen, ihm nur keine Knochen brechen.«

Sausan*, Lehrerin aus Aleppo

Gerade jüngere Gesprächspartner*innen, die in den 2000er Jahren zur Schule gingen, schilderten aber auch, dass Elternhäuser zunehmend gegen körperliche Züchtigung protestierten und ein Ende solcher »Bestrafungen« an ihren Schulen erreichten.
 

1 Herbert Brücker, Nina Rother und Jürgen Schupp (Hrsg.) (2017): IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten 2016: Studiendesign, Feldergebnisse sowie Analysen zu schulischer wie beruflicher Qualifikation, Sprachkenntnissen sowie kognitiven Potenzialen. DIW Politikberatung Kompakt 123 (korrigierte Fassung). S. 28 bzw. 63. Einsehbar unter https://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.563710.de/diwkompakt_2017-123.pdf.

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