Das Leben der Papiere in Syrien

In unserem Eingangsfilm »Blickwechsel« versucht der junge Protagonist, wir nennen ihn Ahmad, die notwendigen Papiere für die Aufschiebung seines Militärdienstes zu bekommen, um sein Studium fortzusetzen. Obwohl der Erhalt des Dokuments eine reine Routinesache sein könnte, sieht sich Ahmad mit einem korrupten Beamten und damit dem Vertreter eines Systems konfrontiert, das er politisch ablehnt. Was zunächst als Formalie erscheint, wird für ihn zur komplizierten, nervenaufreibenden und schließlich erfolglosen Prozedur.

Diese Szene steht stellvertretend für die Herausforderungen, vor die die staatliche Bürokratie in Syrien Bürger*innen stellte. Wer auch nur ein einziges Dokument erhalten wollte, musste häufig durch ein Labyrinth aus bürokratischen Strukturen mit notwendigen Stempeln und Papieren. Seit Beginn des Aufstands wurde der Zugang zu diesen Strukturen zusätzlich durch zahlreiche Checkpoints erschwert, die die Bürger*innen passieren mussten, um die Behörden überhaupt zu betreten.

In Deutschland – wie anderswo – sind offizielle Dokumente wie Geburts- und Heiratsurkunden, Universitätszeugnisse und Identifikationspapiere entscheidend, um ein rechtskräftiges Leben zu führen; sie tragen Autorität in sich. Die rechtliche Identität von Syrer*innen, ihre Familienverhältnisse sowie ihr Berufs- und Ausbildungsstatus werden in der Regel durch Papiere dokumentiert, die der syrische Staat ausgestellt hat. Dadurch werden solche Dokumente zu fundamentalen Instrumenten für Syrer*innen, um ihr Leben im Ausland weiterzuführen.

Da sie von staatlichen Behörden ausgestellt werden, mögen diese Dokumente deutschen und europäischen Bürger*innen wie alltägliche, unpolitische Artefakte erscheinen. Im Fall von Syrien allerdings können offizielle Dokumente und die Möglichkeit, sie innerhalb von und außerhalb der staatlichen Grenzen zu erhalten und wiederzuerlangen, sehr politisch sein.

Doch was bedeutet es, dass Dokumente politisch sind? Auf welche Weise äußert sich ihr politischer Charakter? Um diesen spezifischen Aspekt des politischen Lebens in Syrien samt seiner Rolle für Syrer*innen, die in Deutschland Zuflucht gesucht haben, zu verstehen, ist es notwendig, zunächst die Situation in Syrien genauer zu betrachten.

Hierbei ist die Verflechtung staatlicher Strukturen mit der seit 1963 regierenden Baath-Partei, deren Ideologie arabischen Nationalismus und Sozialismus miteinander verbindet, zentral. Staatsbürgerliche Rechte sind mit der Baath-Ideologie und der politischen Loyalität zum Assad-Regime verknüpft. Jeder Verwaltungsvorgang, sei es das Ausstellen eines Personalausweises, die Anmeldung in einer neuen Wohnung oder die Anstellung im Staatsdienst ist mit einer Überprüfung durch die zahlreichen Sicherheitsdienste verbunden; und allein der Verdacht auf Illoyalität oder gar Opposition gegenüber der Baath-Partei oder dem Regime kann schwerwiegende Konsequenzen bis hin zu Inhaftierung und Folter haben. Sogar die Staatsangehörigkeit selbst kann von der Loyalität zum baathistischen syrischen Staat abhängig gemacht werden, wie das Beispiel der mehr als 100.000 kurdischen Syrer*innen zeigt, denen bereits in den frühen 1960er Jahren die syrische Staatsangehörigkeit entzogen wurde. Als »Unregistrierte« (maktumin) oder »Ausländer« (ajanib) haben sie bzw. ihre Nachkommen bis heute weder international anerkannte Ausweisdokumente noch – im Fall der Maktumin – das Recht, Schul- oder Universitätszeugnisse zu erwerben. Um ihre Loyalität zum Regime und zur Partei nach außen zu demonstrieren und Schwierigkeiten in den allgegenwärtigen »Sicherheitsüberprüfungen« zu vermeiden, traten zahlreiche Syrer*innen einer der vielen baathistischen Organisationen (Pioniere, Frauen- und Bauernunion, usw.) bei.

Für Syrer*innen, die die Möglichkeit hatten, ihre Reise im Voraus zu planen, war das Beschaffen und Zusammentragen von Dokumenten ein fundamentaler und zeitaufwendiger Schritt in den Reisevorbereitungen. Ibrahim*, einer der Gesprächspartner der Ethnographin Veronica Ferreri, der im Jahr 2013 Universitätsstudent war, erinnerte sich an die Schwierigkeiten, seine Universitätszertifikate zu beschaffen. Er befürchtete, die Aufmerksamkeit der Behörden auf sich zu ziehen und zum Militär eingezogen zu werden; zu einer Zeit, in der das Land mehr und mehr im Krieg versank. Er beschrieb in allen Einzelheiten, wie es ihm schließlich gelang, diese Dokumente von der Universität zu erhalten. Damit sie auch im Ausland als gültige Zeugnisse anerkannt werden, müssen die Papiere vom syrischen Bildungsministerium gestempelt und vom syrischen Außenministerium zertifiziert werden. Dies stellte Ibrahim vor neue Herausforderungen. Ein gültiges Dokument zu erwerben war nur möglich, weil er genug Zeit für die Beantragung der Papiere hatte und darüber hinaus ausreichend Geld und wasta (Beziehungen) besaß.
Wasta bedeutet eine informelle Beziehung, die ein gewöhnlicher syrischer Bürger oder eine Bürgerin üblicherweise mit einem staatlichen Vertreter unterhält, der, oft nach Bezahlung einer Geldsumme, verschiedene bürokratische Prozesse ermöglicht und »beschleunigt«. Dies kann Genehmigungen für Wirtschaftsprojekte ebenso betreffen wie Einstellungen im Staatsdienst, und nicht zuletzt die Ausstellung offizieller Dokumente. Diese Beziehung kann auch über mehrere Ecken oder »Stationen« gespannt werden: Wenn beispielsweise der Bruder der Nachbarin oder der Onkel eines Bekannten an einflussreicher Stelle sitzt, kann er in diesem Sinne angesprochen werden. Seit 2011 haben diese sozialen Beziehungen eine bedeutende Rolle für aus dem Land fliehende Syrer*innen. Mit der Hilfe von wasta und Schmiergeld können sie wichtige Dokumente wie Pässe erwerben, um syrische Grenzposten passieren. Für behördlich «gesuchte Personen» (matlub), etwa junge Männer, die dem Einberufungsbefehl keine Folge geleistet hatten, war dies in besonderem Maße relevant.
Die Flucht vor dem Militärdienst machte viele syrische Männer zu gesuchten Personen. Aber auch aus anderen Gründen – zum Beispiel politischer Aktivismus – konnte ein Mensch als »gesucht« gelten. Dieser Status bedeutete angesichts der steigenden Zahl an Grenzposten und Checkpoints, die Straßen und den Zugang zu staatlichen Behörden und Universitäten kontrollierten, eine dramatische Einschränkung von Bewegungsfreiheit.

Im syrischen Kontext haben Dokumente und der Akt ihrer Beschaffung eine bedeutende politische Dimension, die vielen den Zugang zu offiziellen Dokumenten erschwert und sogar verwehrt. Mit Hilfe sozialer Beziehungen, Zeit und Geld kann es Syrer*innen dennoch gelingen, durch die staatliche Bürokratie zu navigieren und die Dokumente zu erhalten, die sie selbst für alltägliche Lebenssituationen brauchen.

Auch nachdem ihre Besitzer*innen Syrien verlassen haben, geht das Leben dieser Dokumente weiter.

* Alle Namen im Text sind Pseudonyme, teilweise sind die Personen leicht verfremdet, um eine Wiedererkennung auszuschließen.

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