Infrastruktur und Krieg

Wenn plötzlich kein Strom mehr fließt

Wer im wohlhabenderen West-Teil der syrischen Stadt Aleppos lebte, hat den Krieg dort anders erlebt als die Bevölkerung im Ost-Teil mit seinen großen informellen Siedlungen. Die Fassbomben der Regierung trafen vor allem Letzteren, ganze Nachbarschaften wurden dort dem Erdboden gleichgemacht. Doch auch das Leben im Westen der Stadt wurde für viele unmöglich. Ein Interviewpartner berichtete der Stadtanthropologin Lisa Jöris im Rahmen ihres Forschungsprojektes zur Wasserversorgung in Aleppo, wie in seiner Wohnung auf der Nil-Straße, einer Mittelschichtgegend der Stadt, die Wasserversorgung bis zu vier Wochen am Stück ausfiel. Vier Wochen, in denen sich die Familienmitglieder mithilfe von Tassen wuschen, das plötzlich so wertvolle Wasser sorgsam rationiert.

Wenn Sie das Wort »Krieg« hören, woran denken Sie als erstes? Vielen schießen Bilder von Explosionen und Soldaten in den Kopf, von Zerstörung, Blut und Ruinen. Doch der Alltag im Kriegsgebiet bedeutet noch viel mehr: den Mangel an vorher für selbstverständlich genommenen Dingen wie Strom, Wasser, ärztlicher Versorgung, Schulen, Straßenreinigung und vielem mehr. Was vorher Normalität war, ist plötzlich nicht mehr verfügbar. Diejenigen, die zu Zeiten der Teilung der syrischen Stadt Aleppo und der Belagerung des Ost-Teils zwischen Mitte 2012 und Ende 2016 in der Stadt lebten, haben größtenteils diese schmerzhafte Erfahrung machen müssen – auch im Westen der Stadt. Eine von ihnen berichtet:

»Der Mangel an Strom war für mich wie eine Lähmung. Du willst dein Handy aufladen, geht nicht. Du willst heizen, geht auch nicht. Du willst kochen, geht auch nicht. Ja klar, zum Glück hatte ich noch zwei Arme und Beine aber je länger der Krieg dauerte und je mehr der Strom ausfiel, desto mehr habe ich mich gefühlt wie gelähmt. Was meine ich mit gelähmt? Ich konnte mich nicht bewegen, nichts machen. […] Meine Kinder mussten lernen für ihre Abschlüsse. Aber es gab kein Licht. Wurde es dunkel, konnten sie nicht mehr lernen. Ich hatte Angst, dass sie ihr Leben verpassen werden.«

Um Fauzi* im Interview mit Lisa Jöris, Mai 2019

Wenn Infrastrukturen funktionieren, sind sie in gewisser Weise unsichtbar. Erst in dem Moment, wo sie zusammenbrechen, wird man sich bewusst, wie sehr der Alltag auf ihnen beruht. In der Stadtforschung wird Infrastruktur deshalb auch als »Skelett des täglichen Lebens« bezeichnet.1
Die Knochenbrüche in diesem Skelett sind in Aleppo und großen Teilen Syriens weit davon entfernt zu heilen. Im Gegenteil verschlimmerte sich die Situation in den vergangenen Jahren zunehmend. Treibstoff ist knapp geworden, insbesondere 2019 spitzte sich die Lage zu und verzweifelte Syrer*innen standen in ihren Autos schon ab den frühen Morgenstunden in kilometerlangen Schlangen vor den Tankstellen an. Aufgrund der Benzin-Krise stehen nicht nur Autos sondern auch Strom-Generatoren still, denn sie werden mit Diesel betrieben. Die Geräte sind wiederum vielerorts eine der wenigen Möglichkeiten, Strom zu erzeugen. Die Pumpen, die Wasser aus Brunnen fördern, werden oftmals mit Generatoren betrieben.  Und es ist nicht nur mehr Strom und Wasser, an dem es mangelt. Die extreme Inflation macht Löhne und Gespartes nahezu wertlos, Nahrungsmittel werden unerschwinglich. Wie schwer die Corona-Pandemie das Land getroffen hat, indem Regierungstruppen gezielt Krankenhäuser bombardierten, lässt sich nur erahnen: offizielle Zahlen sind rar und unglaubwürdig. Für die Zukunft von Menschen, die solange in Syrien blieben, bis es wirklich nicht mehr ging, bedeutet das, dass ihre Hoffnung, in naher Zukunft nach Syrien zurückkehren zu können, immer kleiner wird. Schuld ist nicht nur die politische Situation, sondern auch der Zerfall des »Skeletts des täglichen Lebens«.
* Alle Namen im Text sind Pseudonyme, teilweise sind die Personen leicht verfremdet, um eine Wiedererkennung auszuschließen.
 

1 Larkin, Brian (2008): Signal and noise. Media, infrastructure, and urban culture in Nigeria. Durham: Duke University Press., p. 5

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