Abhängig vom Simsar

Ein notwendiges Übel1

Auf dem Weg von ihrem Zuhause in Aleppo zu der allmählichen Niederlassung in Deutschland müssen sich syrische Geflüchtete im Laufe der Jahre auf zahlreiche Vermittler*innen verlassen, um räumlich und sozial mobil sein zu können und Jobs und Wohnungen in einer fremden Umgebung zu finden. Manchmal können diese Vermittler*innen Familie oder Freund*innen sein; aber oft sind Geflüchtete auf professionelle (wenn auch oft nicht zugelassene) Makler*innen angewiesen.

Sie werden Simsar genannt, das arabische Wort für Mittelsperson oder Vermittler*in. Dieser Begriff wird in allen möglichen Kontexten verwendet, die Mittelsleute erfordern. Simsare erhalten Kommissionen für die Transaktionen und Geschäfte, die sie zwischen denjenigen vermitteln, die sich nicht kennen oder vertrauen. Syrer*innen in Deutschland benutzen das Wort für Immobilienmakler*innen, Beschäftigungsvermittler*innen, Anbieter*innen von  Dokumenten und für diejenigen, die internationale Geldüberweisungen für sie tätigen. Seltener wird es für Schmuggler(*innen) verwendet, die Menschen undokumentierte Grenzüberquerungen ermöglichen. Diese werden jedoch üblicherweise Muharrib genannt, das wörtliche Äquivalent von »Schmuggler«.

Dr. Hilal Alkan hat eine Untersuchung mit syrischen Migrant*innen durchgeführt, die eine Weile in der Türkei gelebt haben und dann nach Deutschland gekommen sind. Ihre Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass syrische Migrant*innen auf ihrem Weg vom Verlassen Syriens bis zur Ankunft in Deutschland erheblich auf solche Simsare angewiesen sind. Dies ist besonders vor dem Hintergrund ihrer fehlenden sozialen Netzwerke in den neuen Umgebungen zu verstehen. In der Türkei zum Beispiel, in die mehrere Millionen Syrer*innen eingereist und dort geblieben sind, sind nicht alle, aber viele von ihnen auf Vermittlung angewiesen, um Arbeit zu finden. In Deutschland, besonders in großen Städten wie Berlin, ist Vermittlung zum Finden einer Wohnung ähnlich verbreitet.

Eine typische Arbeitsvermittlung in der Türkei läuft so ab: syrischen Migrant*innen, die weder Sprachkenntnisse noch ein soziales Netzwerk besitzen, wird geraten, eine Person mit Beziehungen zu kontaktieren. Manchmal schicken Schmuggler*innen, die Grenzüberquerungen ermöglichen, sie direkt zu ihren Partner-Simsaren. Der Simsar sorgt dann, wenn gewünscht, für die Unterbringung der Migrant*innen und findet eine Beschäftigung für sie. Diese Jobs sind jedoch stets nicht registriert, niedrigbezahlt und ohne Sozialversicherung. Die Migrant*innen müssen dann entweder die ersten Monatslöhne komplett an den Simsar entrichten oder einen kleinen Teil des Lohns über einen längeren Zeitraum abgeben. Dazu kommen die Kosten für die Unterkunft, die sie selbst bezahlen müssen. In einer Untersuchung, die eine Arbeitervereinigung in den Textilwerkstätten und Fabriken in Istanbul durchgeführte, fanden Forscher*innen heraus, dass 42 Prozent der syrischen Arbeiter*innen ihre Jobs durch die Vermittlung eines Simsars gefunden hatten, während die Praxis für türkische Bürger*innen überhaupt nicht existiert.2 Syrische Arbeiter*innen müssen also einen Teil ihres ohnehin schon mageren Gehalts an die Simsare zahlen. Es ist daher nicht überraschend, dass sie diese Vermittlungspraxis verachten.

»Dieser Mann hatte ein Restaurant und mehrere Wohnungen, wo junge Männer wie ich gewohnt haben. Er nahm unsere Pässe an sich, um sie sicher zu verwahren, wie er sagte. Er schickte mich zu mehreren Jobs und behielt die Hälfte meines Lohns ein. Sobald ich das Geld für ein Busticket gespart hatte, ging ich zurück nach Syrien. Einige Monate später kam ich wieder nach Istanbul. Dieses Mal kannte ich Leute; ich arrangierte alles, noch bevor ich dort ankam.«

Omar*, der bei seinem ersten Aufenthalt 40 Tage in Istanbul blieb und bei seinem zweiten beinahe ein Jahr

Eine typische Wohnungsvermittlung in Berlin unterscheidet sich davon nicht grundlegend. Zunächst erhalten syrische Migrant*innen, die eine beträchtliche Zeit in den Lagern oder Massenunterkünften verbracht haben, von den Behörden endlich die Zusage für den Antrag auf Wohngeld. Danach beginnt die beschwerliche Suche nach einer Wohnung. Berlin ist berüchtigt für seinen Mangel an bezahlbarem Wohnraum und steigende Mieten. Unter diesen Bedingungen ist es selbst für deutsche Bürger*innen schwierig, eine anständige Wohnung zu finden. Die Lage für Geflüchtete auf dem Wohnungsmarkt ist noch um ein Vielfaches schwerer. Der Mehrheit von ihnen fehlt es an Netzwerken und den nötigen Sprachkenntnissen. Oft sind sie auch mit Diskriminierung und Fremdenfeindlichkeit konfrontiert.3 Dadurch sind sie häufig gezwungen, auf die Dienste von Simsaren zurückzugreifen, die in einer Schattenwirtschaft agieren. Simsare verlangen zwischen 2.000 und 10.000 Euro für die Vermittlung einer Familienwohnung. Wenn man bedenkt, dass die einzig legale Einkommensquelle für Geflüchtete bis zu diesem Zeitpunkt Taschengeld vom Staat Berlin war, ist dieser Betrag nahezu unmöglich aufzubringen. Geflüchtete sind daher gezwungen, ihre bisherigen Ersparnisse aufzubrauchen, Familien und Freund*innen um Unterstützung zu bitten oder nicht registrierter Arbeit nachzugehen. Sobald sie die notwendige Summe für das Arrangieren eines Mietvertrages angespart haben, können sie nichts weiter tun als dem Versprechen der Simsare zu vertrauen. Allerdings kommt es vor, dass das Vertrauen enttäuscht wird und Simsare ohne Gegenleistung mit dem Geld verschwinden.4

»Es ist so schwierig, eine Wohnung zu finden, obwohl das Jobcenter die Miete bezahlt. Die Simsare verlangen zwischen 7.000 und 8.000 Euro.«

Akram*, seit zweieinhalb Jahren mit seiner Familie im Heim lebend.

Dr. Alkans Recherche zeigt, dass Syrer*innen Simsare abgrundtief verachten. Selbst dann, wenn ihre Job- oder Wohnungssuche erfolgreich ist, sprechen sie nicht positiv über diese Mittelsleute. Die Vermittler*innen tun mehr, als Migrant*innen dabei zu unterstützen, in ihrer neuen Umgebung Fuß zu fassen. Indem sie ihre Abhängigkeit ausnutzen, erinnern sie sie an die Tatsache, dass die Überquerung von internationalen Grenzen nicht der schwierigste Teil ihrer Reise war. Größere Herausforderungen erwarteten sie in den Städten, in denen sie sich niederließen. Sie mussten ungewollte Fremde bleiben, die nicht einmal frei ihre Arbeit verkaufen oder einen Ort zum Leben auf dem freien Wohnungsmarkt finden konnten. Die Simsare werden daher zu Verkörperungen der unsichtbaren Mauern, denen Geflüchtete jeden Tag gegenüberstehen.

* Um die Gesprächspartner*innen zu schützen, wurden die Namen der im Text zitierten und erwähnten Personen geändert.

 

1 Alkan, H. (2021). Temporal Intersections of Mobility and Informality: Simsars as (Im)moral Agents in the Trajectories of Syrian Refugees in Turkey and Germany.Migration Letters, 18(2), 201–213. https://doi.org/10.33182/ml.v18i2.1181

2 Erol, E., Akyol, A.E., Salman, C., Pınar, E., Gümüşcan, İ., Mısırlı, K.Y., Kahveci, M. und Mutlu, P. (2017).Suriyeli göçmen emeği: İstanbul tekstil sektörü araştırması. İstanbul: Birleşik Metal İş.

3 Hamann, U. & El-Kayed, N. (2018). “Refugees’ access to housing and residency in German cities: Internal border regimes and their local variations”. Social Inclusion 6 (1): 135–46.

4 Berliner Morgenpost (2016). »Falsche Wohnungsvermittler zocken Flüchtlinge ab«. 02/06/2016.

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